Was für den wirtschaftswissenschaftlichen Laien nicht immer offensichtlich ist, ist für die Volkswirtin und den Volkswirt sonnenklar: freier Handel auch über Grenzen hinweg stellt alle beteiligten Gebiete besser. Über hunderte Jahre hat sich die Wirtschaftswissenschaft mit verschiedenen Argumenten für und gegen Freihandel beschäftigt, und egal welcher Zugang gewählt wird, Freihandel erhöht praktisch immer den Wohlstand. Das heißt natürlich nicht, dass Freihandel jede einzelne Person besser stellt. Zölle auf gewisse Produkte können Industrien oder die Landwirtschaft schützen und damit die Beschäftigten genau in diesen Bereichen besser stellen; für die Kosten kommen dann aber alle Konsumentinnen und Konsumenten auf, weil die Preise der betreffenden „geschützten“ Produkte höher sind als ohne Zölle. Ingesamt „gewinnen“ die Konsumentinnen und Konsumenten bei der Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen mehr als die Produzenten und damit die Beschäftigten in den vermeintlich geschützten Bereichen „verlieren“.
Letztlich blieb nur ein plausibles Argument für Zölle übrig, das so genannte Entwicklungszoll-Argument. Wenn Staaten Industrien entwickeln wollen und wenn die Kosten der Produktion über die Zeit fallen aufgrund von steigendem Output (sogenannte „economies of scale“) oder Lerneffekten, dann kann es Sinn machen, diese in den Kinderschuhen steckenden Industrien mit Zöllen zu „beschützen“. Leider hat sich in den meisten Anwendungsfällen gezeigt, dass die Zölle viel zu lange aufrecht erhalten und die ehemals jungen und aufstrebenden Industrien dadurch nicht effizient wurden, weil der internationale Wettbewerbsdruck gefehlt hat. Die so geschützten Industrien werden damit langsam immer weniger wettbewerbsfähig und scheiden dann doch irgendwann aus dem Markt aus, obwohl die Konsumentinnen und Konsumenten über Jahre oder gar Jahrzehnte höhere Preise für die Produkte bezahlt haben. Dazu passt die generelle Erkenntnis, dass international tätige Unternehmen im Durchschnitt produktiver und erfolgreicher sind: internationaler Wettbewerb führt also zu stärkeren Unternehmen, die auch höhere Löhne zahlen.
Abbau von Handelshemmnissen
Über die letzten Jahrzehnte wurden in diesem Sinne weltweit Zölle abgebaut und Handelsabkommen abgeschlossen. Dies erfolgte zuerst im Rahmen des GATT und seit 1995 im Rahmen der WTO. Im klassischen Güterhandel sind die Zölle – mit einigen wichtigen Ausnahmen hinsichtlich Produkte und Länder – schon relativ gering. Seit vielen Jahren geht es daher immer stärker um sogenannte nicht-tarifäre Handelshemmnisse (protektionistische Produktstandards, überlange und überbürokratische Abfertigung von Produkten im Import, überschießende Regulierung von Importen, etc.), um Subventionen für Exporte, die zu Dumpingpreisen am Weltmarkt führen, und um spezielle Dienstleistungen und elektronische Services, die besonderen Regeln unterliegen. Leider war in diesen Bereichen die WTO nur begrenzt erfolgreich.
Dazu kommt, dass der wichtige WTO-Streitbeilegungsmechanismus durch fehlende Entscheidungen der letzten US-Administrationen in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist. Und noch viel schlimmer: Wir sehen eine zunehmende Tendenz der großen Wirtschaftsräume, protektionistische Instrumente einzusetzen und zu wenig Ambition der aufstrebenden Wirtschaftsräume wie Indien oder Südafrika sich für einen freien, fairen und regelbasierten Welthandel einzusetzen.
Für Österreich als im internationalen Vergleich relativ kleines Land, das stark exportorientiert ist, ist das eine bedenkliche Entwicklung. Aber auch ganz Europa leidet darunter, weil auch die großen Länder Europas bei weitem stärker exportorientiert sind als die USA. Das lässt sich leicht an der Exportquote veranschaulichen, dem Bruttoexportanteil an der Wirtschaftsleistung, der ein Indikator dafür ist, welche Rolle der Export für die Wertschöpfung und damit für den Wohlstand einer Region oder eines Landes spielt. Die Exportquote Österreichs betrug 2022 etwa 62%; Deutschland hat eine Exportquote von rund 50%; die US-amerikanische Exportquote ist nur rund 11%.
Europas Naivität
Europa war lange viel zu naiv, was seine Interessen im Gefüge des Welthandels betrifft. Man hat es einerseits in den letzten Jahrzehnten nicht (mehr) geschafft, die WTO schlagkräftiger zu machen und die Handelsschranken weiter zu senken. Andererseits gelang es auch nicht, die Gefahren für die strategische Autonomie Europas einzudämmen. Nach und nach verlagerte sich die Produktion von strategisch wichtigen Produkten – Wirkstoffe, Medikamente, Solarpaneele, Wechselrichter, etc. – weg von Europa. Manchmal entstanden dann Ländermonopole wie bei den Solarpaneelen, bei denen chinesische Produzenten den Großteil des Weltmarkts beliefern. Derzeit sehen wir mutmaßlich ähnliche Entwicklungen bei Elektroautos.
Diese Entwicklungen bergen die Gefahr von zunehmenden Handelskonflikten, begleitet von Subventionswettläufen oder Zollerhöhungen – beides müssen die Konsumentinnen und Konsumenten mit höheren Steuern oder mit höheren Produktpreisen ausbaden. Allerdings sind richtige politische Antworten gar nicht so einfach, weil wir es mit einem sozialen Dilemma zu tun haben – alle profitieren vom fairen und freien Handel, aber einzelne Staaten können sich auf Kosten anderer einen Vorteil verschaffen; wenn das aber alle versuchen, endet es in einer protektionistischeren, ärmeren Welt, mit weniger Wertschöpfung und weniger Arbeitsplätzen und damit weniger Wohlstand für alle.
Drei Säulen einer zukunftsorientierten EU-Handelspolitik
Aus meiner Sicht braucht es daher drei zentrale Säulen einer neuen europäischen Handelspolitik. Wir müssen erstens die WTO neu denken, stärker plurilaterale Ansätze zulassen und damit wegkommen von den großen, schwerfälligen, multilateralen Verhandlungen, die keine Fortschritte mehr bringen. Gleichzeitig muss die Europäische Union wie bisher auf moderne und weitreichende Handelsabkommen setzen, insbesondere mit strategischen Partnern in der ganzen Welt. Zweitens braucht es gezielte Antworten auf protektionistische Maßnahmen in Drittstaaten, ohne damit Handelskriege anzuzetteln – das heißt, sorgfältige, umsichtige und evidenzbasierte Untersuchungen auf Basis von WTO-Regeln, z.B. im Zusammenhang mit mutmaßlichem Dumping oder Exportsubventionen bei Elektroautos aus China. Gleichzeitig wird auch die EU bei Subventionen und Produktregeln stärker auf Nachhaltigkeit schauen müssen, ohne dabei protektionistisch zu sein. Was spricht dagegen, den Anteil an zertifiziertem grünem Stahl, der in der EU zugelassenen Autos verbaut wird, stufenweise zu erhöhen? Davon profitieren innovative, zukunftsorientierte Stahlunternehmen, egal wo sie produzieren. Und drittens brauchen wir aus meiner Sicht ein viel besseres Verständnis für die wechselseitigen Abhängigkeiten im internationalen Handel entlang der Wertschöpfungsketten, von den Maschinen in der Produktion bis hin zu den fertigen Produkten. Mit dem Austrian Supply Chain Intelligence Institute (ASCII) in Österreich haben wir eine Vorzeigeinstitution in der diesbezüglichen Forschung, aber es braucht darüber hinaus eine Stärkenlandkarte Europas. Diese wird zeigen, dass es gerade zwischen Europa und China wechselseitige Abhängigkeiten gibt, die für beide ein gedeihliches, konfliktfreies, aber faires Handelsverhältnis indizieren, weil jeder fahrlässig ausgelöste Konflikt potentiell hohe Kosten für beide Seiten verursachen würde. Dafür ist aber selbstverständlich WTO-Konformität die Voraussetzung.
Europa war und ist der Motor für die weltweite Handelspolitik. Diese Verantwortung anzunehmen und diese Rolle auch aktiv einzunehmen, wird auch in Zukunft wichtig sein.
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