Die deutsche Wirtschaft steckt in einer schweren Krise. Zur weltweit schwachen Konjunktur und zunehmend protektionistischen Tendenzen im Welthandel kommen der europaweite Verlust an Wettbewerbsfähigkeit in den letzten Jahren durch höhere Energie-, Personal- und Bürokratiekosten, zu geringe Produktivität und eine alternde Gesellschaft. Die zuletzt fehlende Priorität für den europäischen Industriestandort auf EU-Ebene und das Ignorieren von Warnungen fallen jetzt vielen EU-Staaten auf den Kopf.
Es verwundert daher nicht, dass Regierungen aller Couleurs bei Wahlen mit Verlusten zu kämpfen haben oder, wie in Deutschland, Regierungen an den anstehenden Herausforderungen zerbrechen. Das Platzen der Ampelregierung in Deutschland ist – angesichts der ökonomischen Größe Deutschlands – natürlich besonders problematisch für die EU. Wenn das wirtschaftliche Zugpferd Deutschland ausfällt, tut sich die gesamte europäische Wirtschaft schwer. Und eine Regierung ohne Mehrheit, wie derzeit in Deutschland, kann schwerlich zukunftsweisende Rahmenbedingungen für den Standort umsetzen und damit einen Impuls für Europa geben. Schadenfreude ist daher überhaupt nicht angebracht.
Wie sieht vernünftige Budgetpolitik aus?
Das Platzen der deutschen Regierung ist die Folge sehr unterschiedlicher Zugänge in der Budgetpolitik. Die SPD wollte die schon seit Jahren politisch umstrittene Schuldenbremse für Investitionen eher aussetzen, wohingegen die FDP auf nachhaltige Staatsfinanzen und deren Einhaltung pochte. Paradoxerweise haben beide Seiten recht. Deutschland hat zumindest ein Jahrzehnt zu wenig investiert – sowohl privat als auch öffentlich. Es muss in Deutschland mehr investiert werden, sonst droht sehr langfristig das abschreckende Beispiel Vereinigtes Königreich, das von der Industrienation zur Dienstleistungsnation wurde, mit mehr regionaler Ungleichheit und schwach wachsendem BIP/Kopf, sowie einem Brexit, der die Industrie zusätzlich belastet. Die SPD möchte daher mehr investieren, aber vor allem auf Pump.
Aber Investitionen bedeuten nicht notwendigerweise Schulden. Und nicht alles, was als Investitionen bezeichnet wird, ist wirklich eine Investition in Standort und Wettbewerbsfähigkeit. Die langen Jahre der Nullzinspolitik haben gezeigt, dass fast alle Staaten die massiven zusätzlichen budgetären Spielräume durch den niedrigeren Schuldendienst für mehr (oft nicht zielgerichtete) Sozialpolitik und einen größeren öffentlichen Sektor genutzt haben, anstatt Zukunftsinvestitionen in materielle und immaterielle Infrastruktur und in die Bildung zu tätigen. Die FDP glaubt, dass Investitionen auch mit der Schuldenbremse möglich sind, wenn man die politische Kraft aufbringt, strukturelle Reformen vorzunehmen – jene Reformen, die seriöse Wirtschaftsforscherinnen und Wirtschaftsforscher fordern, die aber politisch oft verpönt sind, weil sie zum Teil schmerzhaft sind. Sowohl viele Wählerinnen und Wähler als auch viele Politikerinnen und Politiker denken da zu kurzfristig. Die Politik schielt auf die nächsten Wahlen, die Wählerinnen und Wähler wollen genau jene Reformen nicht, die besonders wirksam sind, weil sie davon betroffen sein könnten. Ich will hier nicht auf die seit Jahren vehement geführte Diskussion eingehen, ob es nicht sinnvoll wäre in einzelnen Jahren etwas flexibler mit der Schuldenbremse umzugehen. Aber klar ist: Mittel- und langfristig sind stabile Staatsfinanzen eine wichtige Voraussetzung für Wachstum. Und für die Vertreterinnen und Vertreter von Mehrausgaben gibt es nie den optimalen Zeitpunkt für Budgetdisziplin.
Konjunktur und Struktur
Zu allem Unglück gibt es dazu auch noch zum Teil falsche Erwartungen und Einschätzungen. Die Gewerkschaften tendieren aufgrund der Wirtschaftslage etwa dazu, großflächige Konjunkturpakete zu fordern. Jetzt spricht volkswirtschaftlich nichts gegen Überlegungen hinsichtlich gezielter nachfrageankurbelnder Maßnahmen (z.B. Investititionsbegünstigungen), aber meist wirken sie verzögert und damit prozyklisch, und darüber hinaus ist die aktuelle konjunkturelle Lage mittlerweile keine klassische Rezession mehr. Die strukturelle Schwäche der europäischen Wirtschaft, insbesondere der Industrie, der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und die Verfestigung der Negativerzählung bei den Konsumentinnen und Konsumenten führen zu einem (über-)ausgeprägten Zukunftspessimismus, der sich selbst verstärkt. Hier helfen nur glaubwürdige Signale für strukturelle Reformen, die die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken (also die relative Kostensituation im weltweiten Vergleich verbessern und die Produktivität bzw. Innovationskraft erhöhen).
Oder glaubt irgendjemand, dass ein großes Konjunkturpaket – und wir schauen einmal kurz nach Österreich – die Insolvenzen bei Kika/Leiner oder bei KTM verhindert hätte? Oder die angekündigte Schließung des Schäffler-Werkes in Niederösterreich? Selbstverständlich nicht.
In Österreich können wir nur hoffen, dass Deutschland bald aus der wirtschaftlichen Krise kommt. Deutschland ist immer noch bei weitem unser wichtigster Handelspartner. Die Lage dort ist nicht einfach, egal welche politische Konstellation nach den angekündigten Neuwahlen eine Mehrheit hat und welche Regierung gebildet wird. Und der implizite Streit über kurzfristige (Konjunktur-) und langfristige (Struktur-) Maßnahmen sowie Budgetdisziplin und Investitionen schwelt nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern und auch in der gesamten Europäischen Union. Insofern kann man aus der aktuellen deutschen Diskussion lernen, auch wenn zum Beispiel in Österreich die Investitionsquote im letzten Jahrzehnt viel höher war als in Deutschland, aber auch unsere Abgabenlast. Zuguterletzt noch ein empirisches Ergebnis: Nachhaltige und wachstumsfördernde Budgetkonsolidierungen erfolgen international im Durchschnitt zu 2/3 ausgabenseitig (https://www.journals.uchicago.edu/doi/full/10.1086/649828). Und klar scheint: Je höher das Ausgangsniveau der Abgabenlast, desto höher wird wohl der Anteil der ausgabenseitigen Maßnahmen sein müssen (also weit über den 2/3), um erfolgreich zu sein.
Foto: BMAW/Holey