„Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“ – ist jener Satz, der wohl am besten den generell schwach ausgeprägten Zukunftsoptimismus im deutschsprachigen Raum charakterisiert. Für lange Zeit war der Satz zwar immer wieder in politischem Gebrauch – er wird daher auch mehreren Politikern als persönliches Zitat zugeschrieben – aber er kann nicht wirklich ernst gemeint gewesen sein. Das Land Österreich hatte in der Geschichte immer wieder kollektive politische Visionen: den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, die gesellschaftliche Modernisierung nach den Studierendenprotesten der späten 1960er Jahre, den EU-Beitritt oder die Rolle des neutralen Mittlers in internationalen Konflikten, um nur einige zu nennen.
Manche dieser politischen Visionen, wie die gesellschaftliche Modernisierung, sind zeitlos. Manche verändern sich angesichts geopolitischer Verschiebungen, wie die nun eingeschränkten Möglichkeiten einzelner mittelgroßer Staaten bei der Vermittlung in internationalen Konflikten. Aber spätestens seit den 2010er Jahren, scheint es mir, weiß Österreich kollektiv nicht so recht, wo es hinwill. Österreich ist ein mittelgroßes, weltpolitisch begrenzt relevantes aber international konstruktives, reiches, innovatives, gut funktionierendes und besonders schönes Land. Aber das Fehlen einer geteilten politischen Vision nagt auch am Zukunftsvertrauen der Österreicher. Hatte in den 80er Jahres des letzten Jahrhunderts noch eine klare Mehrheit der Bevölkerung die Zuversicht, dass es der nächsten Generation bessergehen wird als ihr selbst, sind die Optimistinnen und Optimisten nun in der Minderheit.
Fehlender Narrativ?
Dieser allgemeine Zukunftspessimismus ist schwer zu erklären, vor allem auch angesichts der Tatsache, dass in den letzten 40 Jahren der Wohlstand in Österreich stark gewachsen ist. Ich möchte hier nicht die verschiedenen Erklärungsansätze für die Divergenz zwischen Sein und Wahrnehmung durchdeklinieren – sie reichen von der rezenten Fülle an präsenten Untergangsszenarien, die durch (soziale) Medien noch einmal verstärkt werden, bis hin zur Wahrnehmung des relativen Vergleichs als absolut (vereinfacht: wenn alle gleich schnell wachsen, fühlt man sich nicht größer, auch wenn man das ist). Ich bin aber überzeugt davon, dass das Fehlen einer positiven kollektiven Vision, eines Narrativ, seinen Anteil am Zukunftspessimismus in diesem Land hat.
Da helfen dann auch technokratischen Pläne oder die reine Aufzählung von Problemen und guten Lösungsvorschlägen nur begrenzt. So relevant der Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaft und Standort in der vergangenen Wahlauseinandersetzung war, mit vielen konkreten und weniger konkreten Maßnahmenvorschlägen, so wichtig ist das „große Bild“. Und von diesem großen Bild, das weit über die Legislaturperiode hinausreichen muss, leiten sich dann fast zwingend konkrete Maßnahmenvorschläge ab.
Österreichs Platz in der Welt in zehn Jahren
Wo ist Österreichs politischer und wirtschaftlicher Platz in der Welt 2035 oder gar 2040? Wir werden unseren Wohlstand aus meiner Sicht nur ausbauen können, wenn wir innovativer, offener und leistungsfähiger als Gesellschaft werden – eine Gesellschaft, die allen Menschen individuelle Chancen eröffnet, eine „Chancen-Republik“, wie ich hier schon einmal ausgeführt habe (https://martin-kocher.com/2023/10/19/die-chancen-republik-oesterreich/). Das vor etwa einem Jahr zu Chancen und Chancengerechtigkeit Gesagte ist meines Erachtens noch einmal relevanter geworden.
Hervorragende Bildung und Ausbildung auf allen Ebenen spielt dafür eine zentrale Rolle, aber auch die generelle Akzeptanz von Wissenschaft und Technologie sowie eine internationale Ausrichtung, die sich realistisch der Möglichkeiten und Nischen eines mittelgroßen Landes bewusst ist. Die Soziologie unterscheidet die Anywheres, jene Menschen, die aufgrund von Ausbildung, Sprachkenntnissen und Offenheit überall in der Welt leben können, und die Somewheres – jene, die stärker an einen Ort gebunden sind. Die Globalisierung, die Internationalisierung und die Weiterentwicklung der Europäischen Union in den letzten Jahrzehnten haben der ersteren Gruppe eine Vielzahl an Chancen eröffnet. Dies spiegelt sich fast eins-zu-eins in der Einkommensentwicklung verschiedener Tätigkeiten wieder. Die zweite Gruppe, die Somewheres, haben oft nur indirekt profitiert. Ein sinnvolles Ziel wäre daher, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass möglichst viele Österreicherinnen und Österreicher, aber auch Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten, Anywheres sein können, die aber bewusst und gerne in Österreich arbeiten und leben.
Zukunftsweisende wirtschaftspolitische Signale
Gerade in einer alternden Gesellschaft mit potentiell geringerem Produktivitätswachstum wird weniger investiert und damit sinkt das Wachstumspotential. Warum investieren Unternehmen derzeit vergleichsweise wenig in Europa? Nicht wegen der aktuellen Konjunktur – die natürlich nicht zufriedenstellend ist und vielen Unternehmen Probleme bereitet, aber sie wird sich bald wieder erholen – sondern wegen der nicht besonders rosigen langfristigen Aussichten. Es braucht also derzeit kein großes Konjunkturpaket, sondern strukturelle Maßnahmen: zielgerichtete Investitionsanreize, Maßnahmen zur Reduktion von Bürokratie- und Energiekosten, Entlastung bei arbeitsbezogenen Abgaben und eine glaubwürdige, eine mittelfristig ausgerichtete Produktivitätspolitik, die allen Teilen der Bevölkerung mehr Chancen eröffnet, Forschung und Innovationen begünstig und breit wirksame Leistungsanreize setzt. Diese müssen aber mit einem größeren politischen Ziel verknüpft werden: ein chancenreicheres, kollektiv leistungsfähigeres und für Arbeitskräfte, Unternehmen und Investitionen attraktiveres Österreich.
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