Hierzulande muss man ja mit Visionen vorsichtig sein. Allzu schnell wird einem dann ein Arztbesuch angeraten. Wobei das dazu passende Zitat („Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“) mehreren Politikern, nicht nur in Österreich, zugeschrieben wird. Egal, ich bin der Meinung, gelegentlich darf man auch ein wenig genereller in die Zukunft blicken. Und man kann ja Visionen auch mit konkreten Maßnahmenvorschlägen verknüpfen, damit das Ganze nicht zu abstrakt wird.
Ein Moment, in dem ein paar Visionen passend schienen, war die Feier zum 175-jährigen Bestehen des Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft, das 1848 als Handelsministerium gegründet worden war. 175 Jahre wechselvolle Geschichte mit Weltkriegen, Weltwirtschaftskrisen und einer fast einzigartigen Erfolgsgeschichte seit 1945 mit wirtschaftlichem Wohlstand, gesellschaftlicher Entwicklung und sozialer Sicherheit in Österreich gemahnen zu viel Demut, wenn man als Minister, der lediglich knapp drei Jahre – und damit nur einen Bruchteil dieser Zeit – im Amt ist, auf sie zurückblickt.
Andererseits sind Jubiläen wie dieses ein guter Anlass, um nicht nur prognostisch, sondern auch gestalterisch in die Zukunft zu blicken. Das habe ich im Rahmen meiner „Geburtstagsrede“ zum 175. auch versucht (die Details finden sich HIER). Ich wiederhole hier keine einzelnen Inhalte, die sich selbstverständlich vor allem auf die Bereiche Arbeit und Wirtschaft bezogen haben, aber die generelle Botschaft ist mir wichtig: Aus meiner Sicht muss es immer und überall das Ziel der Politik sein Chancen zu eröffnen – Österreich als Chancen-Republik.
Wir diskutieren diese Aufgabe, Chancen zu eröffnen, aus meiner Sicht zu oft rein aus der Bildungsperspektive. Ja, gerade im Bildungsbereich sind Chancen besonders wichtig, nicht nur weil sie der sozialen Mobilität dienen, sondern weil sie eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz der Demokratie und des Zusammenhalts der Gesellschaft darstellen. Aber wenn wir über Chancen reden, müssen wir – aus Sicht des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft – auch über den Arbeitsmarkt sprechen oder über das Unternehmertum in Österreich.
Mit der Ausbildungsgarantie bis 25 Jahren etwa haben wir in Österreich ein Instrument, um das uns viele Staaten beneiden. Wer als junger Erwachsener arbeitslos wird, erhält garantiert eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz. Viele können mit dieser Garantie eine Lehre beginnen bzw. abschließen und erhalten damit bei weitem bessere Karrierechancen. Die Arbeitslosenquote unter Lehrabsolventinnen und -Absolventen liegt bei etwa 5% nach nationaler Definition; jene für Menschen, die maximal den Pflichtschulabschluss vorwiesen können, liegt bei über 18%.
Die Zahl jener jungen Menschen in Österreich zu reduzieren, die weder in Ausbildung, noch in Ausbildungsvorbereitung, noch in Arbeit sind, muss trotzdem weiter unser Ziel sein. Und das erfordert neben der Ausbildungsgarantie auch gute Sozialarbeit und umfangreiche Auffangprojekte, die nicht ausschließlich durch das AMS bereitgestellt werden können.
Auch die Unternehmen und die Unternehmerinnen bzw. Unternehmer brauchen Chancen. Die Möglichkeit, Chancen nutzen zu können bei der Gründung, bei der Erweiterung, beim Export, bei der Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterbeteiligung, bei der Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und bei vielen anderen Aufgaben, muss die Voraussetzung für die Gestaltung politischer Rahmenbedingungen sein. Das gilt auch für den Klimaschutz, den wir viel stärker aus der Perspektive der Chancen für Unternehmen diskutieren müssen. Manchmal denken wir wohl zu sehr an das erwünschte Ergebnis und zu wenig an die notwendigen Voraussetzungen. Das führt zu einem Übermaß an Regulatorik und, damit verbunden, zu weniger Dynamik als wir haben könnten.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Eine Politik, die sich nur auf die Ausgangschancen konzentriert und das dann entstehende Ergebnis ausschließlich meritokratisch – also leistungsorientiert – interpretiert, halte ich für falsch. Man muss als Arbeitssuchende oder als einmal gescheiterter Unternehmer auch eine zweite oder sogar eine dritte Chance bekommen.
Leistung muss sich lohnen, und Leistung muss man bringen können. Der Staat ist für beide Teile dieses Satzes mitverantwortlich. Eine Chancen-Republik Österreich macht beides: die Voraussetzung für alle schaffen, Leistung für sich, die Familie und die Allgemeinheit erbringen zu können sowie die Regeln so zu gestalten, dass Leistung positiv gesehen wird und lohnend ist.
Foto: BMAW/Holey