Vom bekannten Ökonomen John Maynard Keynes ist der vielzitierte Satz überliefert: „In the long-run, we are all dead.“ Er war die kondensierte Kritik an der angebotsorientierten Sichtweise in der Volkswirtschaftslehre, die sich Gedanken über die langfristigen Wachstumseffekte von wirtschaftspolitischen Maßnahmen macht: die langfristig positiven Effekte von Bildung, von Investitionen in Forschung und Entwicklung, von Innovationen und ähnlichen Treibern des wirtschaftlichen Wachstums. Keynes propagierte hingegen, dass Ökonominnen und Ökonomen viel stärker die kurzfristige Nachfrageseite im Blick haben sollten, also die Förderung von Konsum und gegebenenfalls auch die Ankurbelung des Wachstums durch höhere Staatsausgaben.
Längst schon ist der ideologische Streit zwischen den beiden Ansätzen einem grundsätzlichen wissenschaftlichen Konsens in der so genannten Makroökonomik gewichen. Die letzten knapp vier Jahre lassen diesen Konsens gut veranschaulichen. Während der Lockdown-Phasen der Pandemie war keynesianische Politik gefordert, um einen Zusammenbruch von Wirtschaft und Gesellschaft zu vermeiden. Gernot Blümels Satz „Koste es, was es wolle“ war der Ausdruck einer pragmatischen Antwort mit starkem öffentlichem Commitment, um eine Negativspirale von Erwartungen und Konsumneigung nach unten zu vermeiden. Die Wirkung war wie erwartet: eine sehr tiefe (die tiefste seit dem 2. Weltkrieg), aber sehr kurze Rezession in einer V-Form, mit schneller wirtschaftlicher Erholung. Keynesianische Politik war 2020 richtig, wurde von praktisch allen Expertinnen und Experten unterstützt und war auch international das Mittel der Wahl.
Was ist in der aktuellen Phase der Konjunktur zu tun?
Die aktuelle Stagnationsphase der Wirtschaft ist anderer Natur. Wie die Pandemie kommt sie „von außen“, ist also exogen induziert, nämlich durch einen Energiepreisschock, der jene Länder, die fossile Energie importieren, unweigerlich ärmer macht. Aber viele Stagnationsphasen der Wirtschaft wurden durch exogene Preisschocks ausgelöst – Energiepreisschocks, Aktienpreisschocks oder Tulpenpreisschocks (1637 in den Niederlanden). Ganz selten hat das Auf und Ab der Konjunktur überhaupt keinen konkreten Auslöser und folgt lediglich einer regelmäßigen Amplitudenlogik, gleicht also einer Pendelbewegung, auf deren Basis Investitionen und Konsum über die Zeit hinweg schwanken.
Es stellt sich nun die Frage, wann die Politik reagieren soll und wenn ja, in welchem Ausmaß. Bei konjunkturellen Schwankungen im „üblichen“ Ausmaß ist, wenn überhaupt, nur eine sehr zielgerichtete Konjunkturpolitik angezeigt. Die Idee, man könnte Konjunkturtäler, durch die richtige Geld- und Fiskalpolitik gänzlich vermeiden, unterstellt ein Verständnis von konjunkturellen Designs, die weit über die bestehenden volkswirtschaftlichen Diagnose- und Prognosemodelle hinausgeht. Mit anderen Worten: Nur eine perfekte Geld- und Fiskalpolitik könnte, wenn überhaupt, Wirtschaftsabschwünge vermeiden, wofür aber ohnehin das Wissen bzw. die Daten fehlen. Zeitpunkt, Umfang und konkrete Ausgestaltung der Politik sind eben meist nicht optimal und führen dann nicht nur zu Reibungsverlusten, sondern zu negativen Nebeneffekten. Diese Negativeffekte übersteigen oft sogar die positiven Effekte auf die Konjunktur – ganz abgesehen von den Kosten, die in der Regel auf die nächsten Generationen abgewälzt werden. Somit ist es manchmal besser, dosiert zu reagieren, um eine Über- oder Falschreaktionen zu vermeiden.
Die lange Frist
Mehr noch: Kurzfristige konjunkturelle Maßnahmen lenken von den wichtigen Reformen zur Stärkung der langfristigen Wachstumskräfte ab. Das ist umso schlimmer, als dass die Demokratie inhärent eine Tendenz zur Zukunftsvergessenheit hat. Diese ist eine Folge der zu starken Gegenwartsbezogenheit (technisch: „present bias“) des mittleren Wählers (präzise: des Medianwähler), der oder die in der Demokratie bei den regelmäßigen Wahlen die Zukunftsorientierung von Ausgaben und Maßnahmen durch sein oder ihr Wahlverhalten vorgibt.
Es ist sehr einfach: Zukunftsorientierte Politik bedeutet gewisse Einschränkungen heute. Hier ist politisches Handeln dem privaten Handeln sehr ähnlich. Wer in der Jugend auf Konsum verzichtet und mehr in Ausbildung und Bildung investiert, der profitiert in den meisten Fällen später im Berufsleben davon. Wenn eine Regierung in Reformen investiert, profitiert das Land oft Jahrzehnte später. Nur leider sind genau diese Reformen oft wenig populär, weil sie anfangs mit Einschränkungen verbunden sind. Mit dem Budget 2024 und dem Finanzausgleich wird einiges an Reformen und vieles an wichtigen Zukunftsinvestitionen angestoßen: etwa bei der Kinderbetreuung, bei der Pflege, bei der Gesundheit, bei der Forschung, bei der Transformation und bei Schlüsselsektoren wie der Halbleiterindustrie.
Es ist Aufgabe der Regierung für Reformen zu werben und sie zu erklären. Es ist Aufgabe der Wählerinnen und Wähler bei Wahlen genau zu unterscheiden, welche Parteien ihnen das Blaue (oder Rote) vom Himmel versprechen und welche seriösere Konzepte für die Zukunft des Landes haben. Es ist vor allem Aufgabe der Medien, Fragen nach Finanzierung bzw. Gegenfinanzierung von Füllhorn-Projekten und von Abgabensenkungen zu stellen. In einem „Superwahljahr“ wie in 2024, in dem politische Entscheidungen auf vielen Ebenen fallen, die den Spielraum für Reformen bis fast 2030 determinieren, ist es umso wichtiger darauf zu schauen, wer langfristig verantwortungsvoll und wer verantwortungslos ist, wer zukunftsorientiert und wer zukunftsvergessen ist. In the long run, we are all dead – aber unsere Kinder, Enkel, Nichten und Neffen müssen auf den heutigen Entscheidungen aufbauen.
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